Es ist Ende Juli und wir verabschieden uns aus Bulgarien. Ein Land, dass vor Jahrzehnten für viele Osteuropäer ein begehrtes Reiseziel war. Mittlerweile kann man nur selten noch von einem „sprödem Charme“ sprechen den es vielleicht noch ausstrahlt. Vielmehr wirkt es auf uns marode und oftmals nahezu gesetzesfrei. Dicke Autos und Villen stehen im krassen Gegensatz zu Pferdekarren, einer kaputten Infrastruktur, vorörtlichen Müllbergen und zerfallenden Innenstädten. Überall und jederzeit fließt viel Alkohol und nährt die spürbare Resignation. Dennoch, auch hier warten viele wunderschöne Naturparks auf Erkundungsfreudige und Bulgarien scheint sich immer mehr zum Ziel europäischer Aussteiger zu entwickeln.
Entsprechend intensiv der Szenenwechsel nach der problemlosen Einreise in die Türkei. Schon in der nächstgelegenen Grenzstadt Edirne taucht man in eine andere Welt ein und spürt den warmen Hauch des Orient. Quirliges, buntes Leben auf den Straßen, volle Cafés in denen statt Alkohol, Tee und Kaffee serviert wird, so kräftig, dass in ihnen der Löffel stehen bleibt. Minarette strecken sich in den Himmel, für Leo nichts neues, aber Antonia braucht eine Weile um zu verstehen, dass der Lautsprecher-Muezzin dort oben keinen Quatsch macht, sondern durchaus ernste Lieder singt. Andererseits ist Antonia von den Moscheen magisch angezogen. Die Ruhe und Ehrwürdigkeit scheinen sie zu faszinieren. Auch wir kühlen uns in den luftigen Innenhöfen der Moscheen gerne ab und genießen die gediegene Atmosphäre.
Hier haben wir auch wieder den gleichen Stellplatz im Zentrum vor der Selimiye Camii Moschee wie schon 2016 und Leo kann sich an viele Details erinnern. Nur der Muezzin, der um 5 Uhr morgens Dank Verstärkertechnik gefühlt neben dem Bett steht und schreit, bleibt gewöhnungsbedürftig. Wie machen das die Kinder bloß, dass sie einfach weiterschlafen und nicht aufwachen? An einem Abend spendieren wir uns einen Besuch im lokalen Hamam, der mit seinen 4 Jahrhunderten schon etwas in die Jahre gekommen ist. Ganzkörpergrundreinigung, bei der ein gewisser Grad an Schmerzresistenz von Vorteil ist (besonders beim Schrub-Peeling auf frischem Sonnenbrand). Dennoch, danach ist man ein neuer Mensch…
Weiter geht es Richtung SSW in das landwirtschaftlich geprägte Landesinnere bis wir bei der Halbinsel Gelibolu das erste mal auf das Meer treffen. Die Freude ist natürlich groß. Auf der Halbinsel gibt es kaum Tourismus und wir finden schnell eine schöne Bucht, in der wir erstmal 2 Tage zum baden und schnorcheln bleiben. Danach gibt es für Leo Geschichtsunterricht zum 1. Weltkrieg und wir schauen uns verschiedene Orte, Museen und Denkmäler zur großen Schlacht um die Dardanellen an. In Kilitbahir schaffen wir mit der Fähre in nur 10 Minuten den Sprung hinüber nach Canakkale und damit von Europa nach Asien. Bei 40°C im Schatten und einer mittagsschlafenden Antonia im Womo, winken wir dem berühmten Troja nur aus der Ferne und schauen uns dafür in der Abendkühle die Ruinen Alexandria Troas an. Eine weitere „Privatbucht“ wird für 3 Tage unser zu Hause. Hier gibt es Geographieunterricht am Anschauungsobjekt zur Küstenmorphologie und Geologie des Muschelkalks. Als Wegezoll befreien wir dort wo möglich die schönen Stellplätze von dem leider überall herumliegenden und liegengelassenen Müll.
Unterhalb der Ruinen von Assos ein weiterer Stellplatz am Meer mit Blick auf die griechische Insel Lesbos. Bei aller Idylle ist jedoch besonders hier die Flüchtlingsproblematik allgegenwärtig. So finden sich am Rande der umliegenden Dörfer reihenweise Flüchtlingswohncontainer. Von den nächstgelegenen Stränden legten vor nicht allzulanger Zeit täglich Flüchtlingsboote Richtung Lesbos ab. Erst mit Beginn der Corona-Krise stagnierte der Flüchtlingsstrom.
Am Golf von Edremit enden vorerst die wilden einsamen Küstenabschnitte und weichen Touristenzentren, die hauptsächlich auf einheimische Besucher ausgerichtet sind. Unsere Route verlagert sich daher ins Landesinnere und wir machen eine 4‑tägige Pause im berühmten Bergama. Hier erkunden wir ausgiebig die Ausgrabungen rund um Pergamon und wo sonst täglich hunderte Busladungen anlandeten, haben wir das Gelände nahezu für uns allein. Für jene vom Tourismus lebenden Türken ist das natürlich ein großes Drama. Hinzu kommt die Talfahrt der türkischen Lira. War der Wechselkurs 2016 noch 1€ -> 3,5 Lira, so ist er gegenwärtig bereits bei 1€ -> 8,7 Lira. Für uns sicher sehr vorteilhaft, für die Menschen hier führt es jedoch immer mehr zu einem harten Existenzkampf. Ausführlicher wollen wir an dieser Stelle jedoch nicht kommentieren…
Von Bergama ging es weiter über Izmir und Tire Richtung Pamukkale. Wir durchkreuzten das schöne Aydin-Gebirge, vorbei an Berghängen und Tälern bis in den letzten Winkel bestanden mit Feigen- und Olivenbäumen. Es ist Erntezeit und wie im Schlaraffenland. Pamukkale erreichten wir am späten Nachmittag und hatten 4 Stunden Zeit das UNESCO-Welterbe zu durchstreifen. Hierapolis und die Sinterterrassen haben uns sehr beeindruckt. Nur wenige Touristen waren vor Ort und als wir bei Sonnenuntergang zurück zum Nordeingang schlenderteten, waren wir komplett allein. Ein eindrucksvolles Erlebnis.
Bei aller Neugierde und Aufregung des Reisens, denken die Kinder immer wieder auch an ihr „richtiges“ zu Hause. Aber Dank WLAN-Box und Türkish Telecom kann man selbst am einsamen Strand mal schnell Mönchwinkel live ins Wohnmobil holen. Tosia und Leo streiten, zanken, lachen, rennen, toben und schlafen gemeinsam. Das ist eine Herausforderung auf den wenigen Quadratmetern, schweisst aber auch enorm zusammen. Die herzliche und tolerante Offenheit der kinderliebenden Türken ist da sehr hilfreich. Eigentlich täglich werden die Kinder in irgendeiner Weise beschenkt – mal eine Melone, ein Eis, eine Gipsfigur oder auch nur ein breites Lächeln und Winken…
FRED hält bis jetzt super durch und bringt uns immer wieder dank Untersetzung und Allrad sicher durch unwegsames Gelände, hinab zu den Buchten oder hinauf auf einsame Bergspitzen. Mit seinen 4000 cm³ Hubraum, 6 Tonnen Reisegewicht und 90 PS Saugdieselpower braucht man zudem morgens keine Entschleunigungsmeditiation mehr, denn die liegt ihm schon inne. Nur einmal sah es nicht gut aus. Bei einer Routineabschmierung merkte ich, dass das Zapfenkreuz – ein Gelenk in der Allradvorderachse – ausgeschlagen war. Mist. An eine Weiterfahrt ist nicht zu denken. Eine Reparatur in Deutschland hätte einen Umfang von 3 – 4 Arbeitstagen und Kosten nicht unter 1000€ – wenn man das richtige Ersatzteil hat. Nennen wir es glückliche Umstände oder noch besser Gottvertrauen, jedenfalls landeteten wir am nächsten Tag im 60 km entfernten Schraubervirtel der Großstadt Izmir in einer von über 100 Werkstätten. Mehmet und sein Sohn Musa fackelten nicht lange. Innerhalb von 4 Stunden war die Gelenkwelle ausgebaut, dass Gelenk zum Schlosser gebracht, ein neues Zapfenkreuz besorgt, eingepresst und alles wieder professionell zusammengebaut. Kosten: 200€. Anschliessend gab es noch ein herzliches Abendessen bei Musa…
Mit diesem schönen Erlebnis endet nun der 2. Block. Die Kinder sitzen gerade glücklich in einem großen Wasserpark in der Nähe von Pamukkale. Das haben sie sich verdient – nach soviel Geschichte und Geographie. Und ich rutsche gleich mal hinterher.
Abschliessend ein wie ich finde schönes Reise-Gedicht von Kurt Tucholsky, dass ich mir schon als Geographiestudent hinter die Ohren geschrieben habe. Zwar von 1924, aber immer noch aktuell – oder?
Auf bald!
-LUFTVERÄNDERUNG-
Fahre mit der Eisenbahn
fahre, Junge, fahre!
Auf dem Deck vom Wasserkahn
wehen deine Haare.
Tauch in fremde Städte ein,
lauf in fremden Gassen;
höre fremde Menschen schrein,
trink aus fremden Tassen.
Flieh Betrieb und Telefon,
grab in alten Schmökern,
sieh am Seinekai, mein Sohn,
Weisheit still verhökern.
Lauf in Afrika umher,
reite durch Oasen;
lausche auf ein blaues Meer,
hör den Mistral blasen!
Wie du auch die Welt durchflitzt
ohne Rast und Ruh –:
Hinten auf dem Puffer sitzt
du.
Kommentare (4)
Ihr Lieben,
vielen Dank für die Einblicke in euer Abenteuer und das Leben vor Ort. Es ist sehr interessant und so schön beschrieben. Auch, wenn die Zeilen zu Bulgarien etwas traurig machen. Wir hoffen, noch viiiiiiiiel mehr lesen zu können. Euch wünschen wir weiterhin eine spanndende und glückliche Reise. Bleibt alle gesund!
Herzliche Grüße von André und Anja
Was für ein spannender und schöner zweiter Post! Wir wünschen euch weiterhin viel Glück mit FRED! Die Bilder sind fantastisch und führen mit den Worten mal wieder zum eigenen Fernweh. Mittlerweile ist es schon ewig her, dass ich in Pamukkale war. Damals war ich 14 und habe dort meinen kleinen Kuscheltiermausanhänger verloren. In der Zwischenzeit hat die Maus bestimmt Türkisch gelernt und eine nette Familie gefunden. Ich kann mich noch erinnern, wie großartig es war, damals auf den Terrassen zu wandeln und mit dem Kalkschlamm rumzuschmieren. Wir wünschen euch weiterhin so tolle Erlebnisse. Ganz viele liebe Grüße, Susanne und Familie
Hi Leute. Echt cool was ihr so treibt. Wie könnt ihr es nur aushalten? So ohne richtiges Zuhause??? Abermals! Echt cool. Viel spaß noch. 😘😎😀😄😅🤔
Eure Eddi
Hallo ihr Vier,
ganz, ganz, ganz, ganz toll!! Mit Begeisterung lese ich eure Reiseberichte.
Herrlich! Da packt einen das Reisefieber.
Schreibt bitte immer fleißig weiter und beschenkt uns mit den schönen Fotos.
Auch ein „Daumen hoch“ an Leo! Klasse! Weiter so!
Habt weiterhin eine schöne Reise und noch viele, viele Eindrücke bei euerm spannenden Abenteuer.
Auch wir sind schon ganz aufgeregt, denn in vier Tagen holen wir unser neues Wohnmobil :-)))) .
Liebe Grüße, Gudrun